Samstag, 07.05.2022
Neulich in den sozialen Medien
„Wo ist Gott?“ So fragte neulich jemand in den Kommentarspalten, nachdem sie ein Video von mir gesehen hatte. Und dann weiter: „Trotzdem kann ich nicht verstehen, warum er Mord, Folter und unendliche Qualen nicht verhindert, den leidenden Menschen nicht hilft. Schwer immer Antworten zu bekommen!“
Was aktuell auf der Welt passiert, wirft viele Fragen auf. Und da hilft es auch nicht, die Ereignisse einigermassen einzusortieren. Das ändert nichts am Elend. Und am Mitleid mit den geschundenen Menschen, die auf der ganzen Welt nicht so leben können, wie sie das eigentlich gerne würden.
Tja. Wo ist Gott? Gute Frage. Ich habe sie mit ins Altersheim genommen und mit den Besuchern der Andacht besprochen. Sie glauben schon länger als ich, habe mehr Erfahrungen. Eine alte Dame meinte: „Sag mir doch mal, wo Gott nicht ist!“ Da hat sie Recht. Gott ist überall. Auch bei den Menschen, die im Moment in furchtbaren Lebenssituationen feststecken.
Ich maße mir nicht an, von meinem Schreibtisch aus etwas zu ihrer Lebenssituation zu sagen. Ich kann mir das kaum vorstellen. In Etty Hillesum habe ich eine Gewährsfrau gefunden, deren Gedanken ich hinterher spüre. Sie war, von den Nazis in Holland verfolgt, selbst in grossem Elend und landete schliesslich im Konzentrationslager. In ihrem Tagebuch notiert sie ein Gebet, in dem sie eine überraschende Antwort auf unsere Frage findet.
Sie schreibt: »Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute Nacht geschah es zum ersten Mal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leides an mir vorüberzogen. Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben … Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Innern bis zum Letzten verteidigen müssen.«
Das ist eine Spur, der ich folge.
Lars Syring