Reformierte Kirche Bühler

Samstag, 17.08.2019

Gottesdienst in der Krise?

Beim Fernsehgottesdienst haben wir so viele Menschen erreicht wie noch nie.

Früher war in jeder Kirchgemeinde an jedem Sonntag ein Gottesdienst. Das ist heute anders. Kirchgemeinden experimentieren mit Zeiten, Rhythmen, Orten und Formen. Wie es mit dem Gottesdienst weiter geht, ist auch ein Thema der Verfassungsrevision.

Kirchenfunktionäre schielen gerne auf Zahlen. Wenn die Besucherzahlen kleiner werden, kommt schnell die Frage, ob sich der Aufwand lohne. Dieses Denken betrifft inzwischen auch den Gottesdienst. Es ist offensichtlich: Die Zahlen der Gottesdienstbesucher sind kleiner geworden. Ich habe einen Grossteil meiner treuen Gottesdienstgemeinde inzwischen beerdigt. Es sind zwar neue dazu gekommen, aber die alte Zahl erreichen wir mit den klassischen Feiern nicht. Der Gottesdienst müsse anders werden, heisst es es deshalb gelegentlich. Peppiger, bunter, eventmässiger, sind die gängigen Forderungen. Ich habe erlebt, was es heisst, wenn aus einem Gottesdienst ein Event wird. Als wir in Bühler 2015 den Fernsehgottesdienst für den SRF machen konnten, war das zwar eine tolle Sache. Die Kirche war gestossen voll. Viele mussten wieder umkehren und haben im Fernsehen zugeschaut. Aber jeden Sonntag diesen Aufwand? Oder auch nur einmal im Monat? Nein Danke.

Aus der Soziologie wissen wir, dass wir keine Chance haben, den Erlebnismarkt zu steuern. Wir können ihn höchstens verlassen. Wer sich dem Diktat der Erlebnisgesellschaft unterwirft, hat schon verloren. Sicher: wir könnten mit dem entsprechenden Köder wohl für einige Zeit neue „Kunden“ gewinnen. Diese Bindungen werden aber immer nur kurzfristig tragen. Der Erlebnishunger ist abwechslungswütig. Und der Gottesdienst ist das genaue Gegenteil davon. Er ist die immer gleiche Routine, dasselbe Ritual. Das ist die Schönheit der Liturgie! Sonntag für Sonntag gehen wir denselben Weg in das Leben. Diese Verlässlichkeit ist wie ein Leuchtturm. Sie ermöglicht Heimat.

Der Gottesdienst kann sich den Wünschen nach Veränderung und Anpassung an den Zeitgeist verweigern, weil er auf seine Weise das letzte Ziel der Erlebnisgesellschaft realisiert. Jesus sagt im Johannesevangelium: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ In der Begegnung mit der göttlichen Wirklichkeit kommt es zur tiefsten Erfahrung, die für unser menschliches Bewusstsein zugänglich ist. Aber der Weg dahin geht nicht schnell, sondern dauert lange. Der Weg besteht auch aus Dürre und Wüste. Wir kauen Schwarzbrot. Das ist nahrhaft. Und wir haben eine Verheissung. Derselbe Jesus sagt auch: „Ich bin das Brot des Lebens.“ Jesus bezeichnet sich selbst als das entscheidende Lebens-Mittel. Das ist die Antwort auf die Frage, die die Zeitgenossen in vielen Formen bewegt: Wo finde ich heilvolle Kraft für mein Leben?

„Ein Gottesdienst, der der energetischen Fülle der Christuswirklichkeit gerecht zu werden versucht, wird sich deshalb mit der Vermittlung von heilvoller Information und gefühlvoller Erfahrungen nicht begnügen können. In ihm wird die Lebenskraft des heiligen Gottes segensreiche Gegenwart… Durch diese Gegenwart Gottes werden Menschen über alle Rationalität und Emotionalität hinaus ergriffen von einer Gottesmacht, die sie von Grund auf verändert.“ Das habe ich von Manfred Josuttis, meinem Ausbilder in Praktischer Theologie, gelernt. Ein hoher Anspruch. Gewiss. Ich kann ihn nicht Sonntag für Sonntag einlösen. Aber es liegt ja - Gott sei Dank - nicht nur an mir. Gott wird seine Wege finden, uns zu erreichen. Und ich versuche, ihm möglichst wenig im Weg zu stehen.

Bin ich denn nun ein konservativer Bewahrer dessen, was schon immer war? Das sei Ferne. Das Wissen um die tiefe Wahrheit, die im Aufbau unserer klassischen Gottesdienste steckt (aufgezeigt in unserem reformierten Gesangbuch bei den Nummern 150-153), lässt mir den Freiraum, die Gottesdienste anzupassen. Es spricht meines Erachtens überhaupt nichts dagegen, die Predigt von einer halben Stunde auf fünf bis zehn Minuten zu konzentrieren. Der Predigtteil kann auch mit kreativen Mitteln (Papercuts, Filmausschnitte, Bibliolog, Dialoge usw.) gestaltet sein - er sollte allerdings nicht zur Zerstreuung beitragen oder Selbstzweck sein. Deshalb mag ich die Stille im Gottesdienst. Flexibel bin ich auch, was das Liedgut und die Instrumente angeht. Aber ich möchte nicht auf das verzichten, was mir Heimat ist. Das ist der Weg, den ich im Gottesdienst gehe. Vom Westen in den Osten. Von der Reinigung (Sammlung) über die Erleuchtung (Predigt) bis zur Vereinigung mit Gott im Abendmahl. Von der Begrüssung bis zum Segen, zur Extraportion Lebensmut und Lebenskraft für meinen Weg.

Eine Kirchenbank kommt nach einem Jahr zurück in die Kirche. Sie war im ganzen Dorf unterwegs.

Ich gehe jeden Sonntag in den Gottesdienst. Wenn ich Sonntags mal frei habe, gehe ich an dem Ort, an dem ich dann bin, in die Kirche und feiere mit. Dabei ist mir aufgefallen, wie wichtig es ist, dass auch Gäste eine Chance haben, mitzufeiern. Mir helfen klare Gesten und konkrete Anweisungen. Wenn nur die Eingeweihten wissen, was zu tun ist, werden die „Neuen“ abgeschreckt.

Und: Ich stehe sonntags nicht gerne vor verschlossenen Türen. Deshalb halte ich daran fest, jeden Sonntag verlässlich Gottesdienst zu feiern. Vielleicht mit Ausnahme weniger Gottesdienste in den Sommer- und Herbstferien, wenn unsere Dörfer leer gefegt sind. Auch wenn es im kleinen Kreis ist. Mir ist der Gottesdienst zu wichtig. Auch als Übungsweg.

Die Frage, ob sich das lohnt oder nicht, ist für mich nicht relevant. Der Gottesdienst ist ein Schatz, den wir zerstören, wenn wir ihn verzwecken. Erst wenn wir den Schatz pflegen, bemerken wir, wie gut er uns tut. Das setzt allerdings voraus, dass im Gottesdienst eine lebensfrohe Grundstimmung da ist. Ich möchte etwas von der Menschenfreundlichkeit Gottes spüren. Und mir ist wichtig, dass Menschen, die zum Gottesdienst kommen, mit mehr Energie heraus gehen, als sie gekommen sind. Sonst ist etwas ganz schief gelaufen.

Aus diesem Grund feiern wir regelmässig Segnungsgottesdienste, in denen sich Menschen unmittelbar berühren lassen können. Oder Taizéfeiern, in denen das Bergen in Gott deutlicher wird. Oder Frühstücksgottesdienste, die die Tischgemeinschaften Jesu konkretisieren.

Ich möchte den Gottesdienst nicht durch andere Veranstaltungen ersetzen. Konzerte und Podiumsdiskussionen zum Beispiel finde ich gut. Aber nicht anstelle des Gottesdienstes. Gerne als zusätzliches Angebot.

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf verliere ich die Lust an unfruchtbaren Reformexperimenten. Vielleicht verspüren ja gerade die, die nicht zum Gottesdienst gehen, eine Ahnung davon, wie sehr ihr bisheriges Leben dort bedroht werden könnte.

Lars Syring

Dieser Text erscheint in der September-Ausgabe des MAGNETs, der Zeitschrift unserer Landeskirche ARAI